Jahresthema 2015

Reformation und Generation


Bei der Auseinandersetzung mit Reformation und religiöser Pluralisierung stehen häufig die großen politischen Konflikte, die Kriege und blutigen Verfolgungen im Mittelpunkt. Für viele Menschen spielte sich der Kampf um den richtigen Glauben jedoch nicht auf Schlachtfeldern und in Staatskanzleien ab, sondern tagtäglich in der eigenen Wohnstube. Innerhalb der eigenen Familie und dem unmittelbaren gesellschaftlichen Umfeld entfachten Reformation und religiöse Pluralisierung Familien- und Generationenkonflikte, die den Alltag erschütterten. Nicht selten wurden und werden über  religiöse Differenzen Generationenkonflikte ausgetragen. Eltern und Kinder, Brüder und Schwestern, oder auch Ehepartner besuchten plötzlich unterschiedliche Gottesdienste, sprachen andere Gebete, folgten neuen Ritualen und hatten ein anderes Sakramentsverständnis. Diese vermeintlich harmlosen Differenzen waren jedoch Ausdruck fundamentaler Glaubensverschiedenheiten über die Lehre Christi, über Leben und Tod, Schuld, Sühne, Vergebung und die Natur des Menschen. Häufig bedeutete dies die Zerstörung jeglicher Vertrauensbasis innerhalb des Familienverbunds. Eltern, Kinder, Ehepartner wurden zu Häretikern im eigenen Haus, denen nicht zu trauen war und die man nicht lieben konnte, da sie Gottes „wahre“ Lehre ablehnten. Mit der Auflösung der „einen Wahrheit“ entstanden konkurrierende Wahrheiten, die nicht nur neue Orientierungsmöglichkeiten bieten, sondern  auch die mitunter quälende Frage aufwerfen: Wem und welcher Botschaft können wir vertrauen, und wie finden wir dies heraus?

Auf dem Weg zum Reformationsjubiläum hat „Freiheitsraum Reformation“ sich bereits intensiv mit religiöser Pluralisierung, Toleranz und Konflikt auf der gesellschaftlichen und politischen Ebene auseinandergesetzt. Bewegungen von Ausmaß und Wirkmacht des reformatorischen Geschehens finden jedoch auch ihren Weg in die kleinsten Einheiten der Gesellschaft. Dort werden sie gelebt und weitergetragen.

„Freiheitsraum Reformation“ richtet daher im Jahr 2015 den Blick auf die Familie als Mikrokosmos frühneuzeitlicher wie auch aktueller Glaubensverhandlungen und Glaubenskonflikte. Im Themenjahr „Reformation und Generation“ soll erkundet werden, was Religionskonflikte während und nach der Reformation in Familienverbänden auslösten, und wie frühneuzeitliche Menschen und ihre Nachfahren die religiöse Spaltung ihrer Familien wahrnahmen und verarbeiteten. Welche Rolle spielt eine einheitliche Religionszugehörigkeit in Geschichte und Gegenwart für familiäre Identitäten, für die gemeinsamen Wurzeln? Welche Bedeutung hatte und hat es für Familien, beispielsweise „reformiert“, „lutherisch“ oder „katholisch“ zu sein?

„Reformation und Generation“ wird den Blick insbesondere auf die heutige junge Generationen richten Wie kommen junge Menschen heute mit Glaubensinhalten in Berührung? Wie und von wem werden sie ihnen weitergegeben? Bleiben die Inhalte und Themen der Reformation für sie relevant und lebendig, und wenn ja, wie? Welche neuen Glaubens- und Denkinhalte sorgen heute für Beunruhigung, Konflikte oder Umdenken zwischen den Generationen? Wie können die Botschaften der Reformation in die Sprache der Jugend übersetzt werden? Tragen diese Botschaften die gleiche Bedeutung für Großeltern und Enkel? Und hat die lange und konfliktreiche Geschichte der „Reformationsbotschaften“ Auswirkung darauf, wie junge Menschen von heute diese wahrnehmen? „Reformation und Generation“ bietet für diese und viele weitere damit zusammenhängende Fragen Anknüpfungsmöglichkeiten.